Gedanken zu Cabaret im Kit Kat Club im Londoner Playhouse Theatre
Für mich als Deutscher war es tough Cabaret am Londoner West End zu sehen. Ich denke die Story erweckt unaufgelöste, vererbte Traumata in jedem Deutschen. Insbesondere, wenn diese von der anderen Seite kommen. Gegen Ende des ersten Aktes werde ich immer angespannter. Ich weiß, was passieren wird. Jeder im Publikum weiß das. Doch genau das – so denke ich – ist der Reiz von Tragödien: ich schaue sie um in ihrer Traurigkeit eine Antwort zu finden. Den großartigen Star-Moment erhält in dieser Inszenierung nicht die Figur der Sally Bowles mit ihrem Titelsong: die Regisseurin stellt eine Figur ins Rampenlicht und mit ihr stellvertretend eine ganze Generation von Deutschen, die nichts getan haben. Vivien Perrys What Would You Do? ist im wahrsten Sinne des Wortes das Highlight der Show. Auf einem leuchtenden Podest stehend erklärt sie dem Publikum singend, warum sie als Fräulein Schneider so gehandelt hat, wie sie es tat. Oder eben warum sie nicht gehandelt hat. Es sorgt womöglich nicht für Absolution für die nichts tuenden Deutschen der Nazi-Zeit. Doch es sorgt für Verständnis, es gibt ihnen einen Moment, in denen sie, ihre Schicksale und ihre totgeschwiegenen Entscheidungen sichtbar werden. Für eine Inszenierung und ein Stück, denen es ganz um Sichtbarkeit geht – People of Color, queere Personen, jüdische Personen – wird hier eine weitere Gruppe sichtbar: die der schweigenden Masse. Sicherlich keine Minderheit, doch deshalb weniger wichtig? Ich kann nicht anders als berührt sein von dieser Sichtbarmachung von Fräulein Schneider. Insbesondere in der so ungewohnten Bühnensituation, in der sich diese Inszenierung befindet, denn die Sitzpläne im Playhouse Theatre sind um die Bühne herum angeordnet. Ich sehe als – während Vivian Perry singt – Fräulein Schneider mit dem Rücken zu mir stehen. Sehe auch die Zuschauer*innen auf der anderen Seite, während sie sich ihnen erklärt, grandios begleitet von John Kanders tieftrauriger Musik. Ich sehe sie als würde ich eine geliebte Person auf der Bühne beobachten, während ich hinter den Kulissen stehe. Sie hat diesen Moment verdient sich zu erklären. Hat die Aufmerksamkeit verdient. Mein Opa hätte diese Aufmerksamkeit auch verdient gehabt: zu erklären, warum er sich dem System gefügt hat. Es ist leicht ihm – wie so vielen anderen – einen Vorwurf zu machen. Ihn als Feigling zu bezeichnen. Denn sicherlich war er das: feige. Ist den Weg des geringsten Widerstands gegangen. Es geht auch nicht darum ihm diese Tatsache abzusprechen. Es geht darum ihm einen Moment des Erklärens zu geben. In all der Traurigkeit und Barbarei, die aus seinem Nichthandeln, seiner Konformität resultierten. Entschuldigen wir das Nichts. Es wird ihm jedoch einen letzten Moment im Rampenlicht geben. Aufrecht und aufrichtig!
Logo außerhalb des Kit Kat Clubs im Playhouse Theatre. Weckt Interesse. Was mag in diesem Gebäude wohl vor sich gehen? Doch nicht etwa das alte Musical Cabaret? Keine Bilder. Nur das Logo. Das Gebäude hat fast etwas Verbotenes. Als hätte es eine Sekte fest in der Hand. Doch umso mehr steigt das Interesse. Das Marketing ist ein Genie-Streich. Es zeigt, dass ein Stück wie Cabaret noch Relevanz haben kann. Wieder einmal bin ich ernüchtert von den großen deutschen Musical-Häusern. Keine Innovation. Wie großartig wäre diese Inszenierung von Cabaret in Deutschland, vor allem, da ein großes Maß an deutscher Authentizität hinzukommen würde.
Wooh-Girls in Cabaret
Als ich das Cabaret-Livealbum der Inszenierung von Rebecca Frecknall das erste Mal höre, bin ich ziemlich irritiert. Wie kann ein – vermeintlich junges – Publikum nach der Titelnummer, die im Stück quasi ein Mental Breakdown nach einer Abtreibung ist derart in Wooh-Bekundungen verfallen, die mehr der Reaktion beim Konzert eines Pop-Starlets entsprächen? Verstehen sie nicht, was da auf der Bühne mit der singenden Sally Bowles passiert? Das ist definitiv kein Wooh-Moment! Umso beeindruckender empfinde ich bei der von mir besuchten Vorstellung der Inszenierung, dass das Woohen von Nummer zu Nummer immer weniger wird. Es bleibt den jungen Girls quasi wie ein Lachen im Halse stecken. Richtig so! Die Story wird immerhin immer erschütternder. Es hat sich ausgewooht. Was bleibt ist nachdenklicher Applaus. Angemessen für die tolle Leistung der Darsteller*innen, doch gleichzeitig auch das Maximum an Euphorie, das bei einer Geschichte wie der von Cabaret ausbrechen sollte. Allein das ist der Inszenierung hoch anzurechnen. Sie packt die Vergnügungssucht der Zuschauer*innen und dämpft sie immer mehr über den Abend hinweg. Smartphone-Kameras müssen am Eingang mit passen Kit Kat Club-Aufklebern überdeckt werden. Die Konzentration ist auf der Bühne. Und als Zuschauer*in erlebt man wie das sonst so übliche Vergnügungsgefühl in einen Konflikt gerät. Darf ich nach dieser Nummer jubeln und krakeelen? Die Darsteller*innen sind hinreißend. Doch die Nummern sind so ambivalent! Mach ich mich nicht auch zur/zum Täter*in, wenn ich selbst zum Wooh-Girl werde? Ich übernehme eine Verantwortung an diesem Theaterabend. An der Geschichte. Ich applaudiere Sally weiß gleichzeitig, dass es nichts zu bejubeln gibt. Bezeichnender Weise gibt es an jenem Abend keine komplette Standing Ovation nach der Show. Vereinzelt ja, doch nicht einstimmig. Auch nicht von mir. Nicht, weil die Show nur so mittelprächtig war, sondern weil sie tatsächlich ziemlich prächtig war. Diesen Wandel den ich als Mitakteur*in im Zuschauerraum erlebt, fängt das Live-Album nicht ein. Die Nummern bleiben – obwohl sie mit der gleichen Groteskerie vorgetragen werden wie am Abend der besuchten Vorstellung – feierwürdige Rockstar-Auftritte. Bedauerlich, dass die Album-Produzenten diesen elementaren Bestandteil der Show nicht verstanden haben.